Der Fokus liegt bei dir – mit deiner inneren Stärke und deiner Selbstfürsorge
Immer wenn ein Kind etwas Schlimmes erlebt hat, ist die erste gute Frage: Wie kriegen wir Boden unter den Füßen?
Und die zweite: Wer ist wir? Um wen geht es da?
Um es ganz klar zu sagen: Im Umfeld eines überlebenden Kindes gehören alle dazu. Neutralität gibt es nicht. Jeder und jede ist auf seine eigene Weise betroffen. Ob er es leugnet oder ob es ihn scheinbar kalt lässt. Vielleicht bist du verwirrt oder verärgert. Oder du reagierst zerschlagen – oder auch schon abgehärtet.
Der Nachteil ist, dass alle sich gegenseitig anstecken – mit den emotionalen, den gefühlsmäßigen Reaktionen nach dem Schock. Es geht um viele weiche Knie, in vielen verschiedenen Rollen. Egal, ob Mutter oder Vater, Geschwister, Berater, Tante oder Therapeut, jeder schwingt instinktiv mit.
Umgekehrt bedeutet das zum Glück:
Egal, an welchem Ende wir anpacken, immer ist es für etwas gut. Wo fester Boden entsteht, da gibt ihn auch jemand weiter. Stabilität steckt an. Das gesamte Umfeld profitiert vom kleinsten Schritt jedes Einzelnen nach vorne. Es geht also darum, dass ich auf mich selbst schauen muss, auf meine Kraft und Klarheit, um Kindern Halt geben zu können.
10 Regeln für einen sicheren Rahmen
1. Reagiere ruhig und überlegt. Allzu heftige Reaktionen belasten Kinder und lassen sie verstummen.
2. Geh davon aus, dass du Boden unter den Füßen verloren hast – auch dann, wenn du es nicht spürst.
3. Achte auf deine eigene Zeit, dein eigenes Maß und deine innere Stimme.
4. Für die Seele gilt: Sie strebt danach, vollständig und ganz zu sein. Umso mehr, wenn sie verletzt wurde.
5. Vielleicht weißt du schon, dass eine Narbe bedeutet: „Ich habe überlebt.“ Die Narben sind der Beweis dafür, dass jemand stärker ist als das, was ihn aufhalten wollte.
6. Die Hälfte ist getan, wenn du Hilfe holen kannst und sie auch annimmst. Kinder haben die Fähigkeit, von beliebig vielen wohlmeinenden Mitmenschen das abzupflücken, was sie brauchen.
7. Das Vergangene ist nicht vergangen. Es reicht ein Blick, um den gesamten Körper in Angst und Schrecken zurück zu versetzen. Den Film im eigenen Gedächtnis kann ein Kind nicht einfach hinter sich lassen. Wohin es auch geht, er wird überall gespielt.
8. Sobald ein verletztes Kind eine sichere Verbindung spürt, kann es sich verwandeln: vom erleidenden Objekt in einen aktiv Handelnden. Gib einem Kind Selbstvertrauen und fordere es auf zu handeln. Dann kann es innere Ruhe und Gleichgewicht fest verankern.
9. Wir können eingefahrene Muster ändern, wenn wir sie in einem sicheren Umfeld zulassen und ihnen dann einen neuen Weg weisen.
10. Bei den Folgen von einem Trauma wie sexuellem Missbrauch verhält es sich wie mit einer fremden Sprache. Wer sie verstehen will, fängt am besten ganz von vorne an; versetzt sich also in einen Basis-Zustand, in dem es still ist, urtümlich, dabei frei und verbunden zugleich.
Was jede und jeder persönlich ganz besonders braucht ist ein schwingendes Kraftfeld der Stille. So wie Menschen mit innerer Stärke es haben. Wie machen sie das, und wie finden sie dazu?
Manche sagen, der beste Zugang ist atmen. Andere schwören auf die Formel: Eine Minute Zeit für mich. Sie bauen in ihren Alltag regelmäßige Zeiten ein, in denen sie ganz bei sich sind. Meditation zählt, Träume und Andacht ebenfalls – ob in der Natur, in der Kunst, in einem besonderen Gebäude, in einer Religion …
Male hin und wieder ein Mandala aus. Probier doch einfach mal, ob dir das liegt. Diese traditionelle Art, bei sich zu sein und Stress abzubauen ist eine leichte Methode der Selbstfürsorge. Im Internet gibt es viele Vorlagen. Auch in Büchern oder auf anderen Malvorlagen aus Papier.
Fazit:
Kinder können schlimme Erlebnisse wirklich hinter sich lassen – wenn wir für sie da sind. Weil wir für innere Ruhe und Gleichgewicht sorgen können – aus Selbstfürsorge. Mit dieser Haltung geben wir Kindern leichter einen sicheren Rahmen. Und es gibt viele weitere Techniken der Selbstfürsorge. Die Resilienzforschung hat viele auf den Weg gebracht, die du im Internet leicht findest (und einige auch in meinem Buch über Hilfe nach Missbrauch).
Über die Autorin
Andrea Brummack ist Sachverständige in Fragen sexueller Gewalt und freie Kinderschutzbeauftragte. Sie hilft Menschen, sexuelle Übergriffe zu bewältigen.
Ihr Buch „Way Out: Sichere Hilfe für missbrauchte Kinder. Was hilft und was heilt“ ist beim Springer-Verlag Berlin Heidelberg erschienen. Sie lebt mit ihrer Katze derzeit in einem Dorf bei Stuttgart, glaubt an die tägliche Portion Stille und liebt gut gemachte Krimis, in denen die Bösen ihr Fett ab kriegen. Ohne Glitzer.
„Meine Vision ist eine neue Generation von sozialen Fachkräften, die leicht mit sexuellem Missbrauch umgehen. Ich wünsche mir lebendige Beziehungen im Kinderschutz. Und ich verstehe, dass sozialpädagogische Fachkräfte ihre Arbeit lieben – auch wenn der Stress gewaltig ist. Weil da diese Kinder sind. Diese kleinen, unverfälschten Menschen.“